Nach einer schweren Hirntumorerkrankung kann Iris Richter von sich behaupten, dass sie den Sinn ihres Lebens erkannt hat. Der sieht aber anders aus, als noch vor fünf Jahren.
In unserer schnelllebigen und leistungsorientierten Gesellschaft fällt das Verhalten von „echten Durchstehern“ auf fruchtbaren Boden.
Iris Richter ist Dipl. Sozialpädagogin und systemische Familientherapeutin und eine dieser Durchsteher-Typen. Die 3-fache Mutter managt einen 40-Stunden-Job in leitender Tätigkeit bei der sozialpädagogischen Familienhilfe in Weißwasser. „Nebenbei“ absolvierte sie eine Zusatzausbildung als systemische Familientherapeutin. Sie versorgte ihre Familie, befand sich mit ihrem Partner Dirk mitten im Bau des gemeinsamen Hauses, war im Elternrat der Schule und Kita aktiv und nebenher noch schwanger mit Kind Nr. 4.
Das war 2012 und das Leben von Iris Richter war schön und so gewollt, aber wie sie heute sagt „gehetzt“.
Im Februar 2012 kam Töchterchen Mathilda als 4. Kind zur Welt. Neben einer jetzt 15-jährigen Tochter und zwei 9 und 8 Jahre alten Jungs das zweite Mädchen.
Nach 6 Wochen Mutterschaftsurlaub ging Iris Richter zurück an die Arbeit. Die Elternzeit übernahm Partner Dirk. Aus Pflichtbewusstsein und aus Schuldgefühlen gegenüber den Kollegen, wie sie sagt. Ein Leben im Dauerlauf.
Im März 2012, Mathilda war gerade 1 Monat alt, traten bei ihr erste neurologische Ausfallerscheinungen auf. Beim Besuch eines griechischen Restaurants verlor sie plötzlich das Gefühl im rechten Bein und im rechten Arm. Sie hievte sich auf die Sitzbank. Nach kurzer Zeit kehrte das Gefühl zurück. Doch bei diesem einen Zwischenfall sollte es nicht bleiben. Immer häufiger traten die Ausfälle in Arm und Bein auf, dazu kamen Sehstörungen, Krämpfe im Nacken und vor allem immer abends unglaubliche Kopfschmerzen.
Ihre Hausärztin veranlasste ein MRT des Nackens, dieses blieb ohne Befund und auch sonst wurde keine Erkrankung festgestellt. 2014 wurde es so schlimm, dass Iris Richter es abends manchmal gerade noch bis nach Hause schaffte. Sie war nicht einmal mehr in der Lage selbstständig zu essen, musste von ihrem Mann gefüttert werden. Schließlich gab sie die Leitungsfunktion in der Familienhilfe ab. Der Urlaub in Malaga 2015 mit ihrer Freundin brachte die Wende – im Urlaub stürzte sie mehrfach grundlos. Ihre Freundin bestand nach diesen Erlebnissen mit Iris auf weiteren Untersuchungen. Die gelernte Krankenschwester vermutete eine Borreliose-Infektion. Iris Richter ließ sich ins Klinikum Görlitz einweisen. Hirnwasseruntersuchungen blieben ohne Befund. Die Ärzte des Klinikums veranlassten ein MRT des Kopfes. Endlich hatte Iris Richter eine Diagnose: Hirntumor – gutartig zwar, aber riesig groß.
Iris Richter stand unter Schock – wie in Trance rief sie ihren Partner an. „Das kann nicht sein. Das passiert nicht mir. Ich bin Mama, die Kinder brauchen mich doch.“
Gemeinsam mit Dirk erklärte Iris Richter ihren Kindern was nun folgen würde. Eine Operation, Klinikaufenthalt und anschließend Reha – eine lange Zeit ohne die Mama. Die kleine Mathilda hatte bis dato ihre Mama meist nur als angeschlagene und kranke Frau erlebt.
Am meisten machte es den Kindern zu schaffen, dass die Mama wohl ihre langen blonden Haare opfern muss. Sohn Oskar munterte seine Geschwister zwar unter Tränen, jedoch mit einer sehr logischen Erklärung auf: „Mamas Haare müssen doch ab, stellt euch mal vor, der Kopf wird aufgemacht und die Haare fallen dann rein. Wie sollen die Ärzte denn dann alles wieder zunähen?“ Diese zauberhaft kindliche Logik rührt Iris Richter noch heute.
Ihr tat es unendlich weh, ihre Kinder nicht um sich zu haben. Sie ging mit sich ins Gericht und auch mit der Tumorerkrankung. Am 29.6.2015 stand die Operation an. Am Abend zuvor führte sie ein Zwiegespräch mit dem Tumor. Sie bedankte sich bei dem Gewächs in ihrem Kopf, für die Erkenntnis, die er erlangen sollte.
Die 9-stündige Operation verlief zufriedenstellend, allerdings bildete sich bereits am Folgetag ein so genanntes Liquorkissen, eine Ansammlung von Hirnwasser in ihrem Kopf. Mittels eines flexibles Schlauchsystems, was von der Hirnkammer in die Bauchhöhle verlegt wurde, sollte der Druck verringert werden. Da war Geduld gefragt. Langsam reduzierte sich die Hirnwasseransammlung. Durch die Narbe im Gehirn erlitt Iris Richter aber mehrere epileptische Anfälle und gilt seitdem als Epileptikerin. An ihrem 41. Geburtstag überraschten die Ärzte sie mit der Nachricht „Sie dürfen nach Hause“. Nach über 3 Wochen Klinikaufenthalt ein Glücksgefühl.
Zu Hause verspürte sie die große Schwäche, die die Krankheit verursacht hatte. Aber die Hauptsache war, sie war zu Hause. Ihre Kinder waren plötzlich so groß geworden. Mit Stolz, aber auch mit Wehmut und Trauer betrachtete sie ihre Kinder. Stella, die Große, hatte die Mutterrolle für die kleine Mathilda übernommen. Für einen Teenager eigentlich viel zu früh. Oskar, der Pragmatiker meinte: „Wir können bloß froh sein, dass du nicht gestorben bist.“ Julius überzeugte mit herausragenden Leistungen in der Schule und im Sport. Und die kleine Mathilda… sie war für ihr Alter unwahrscheinlich selbstständig. In der Krankheitsphase der Mutter funktionierten die Kinder wie kleine Uhrwerke, selbstständig und zuverlässig – nur der Mama keinen Kummer machen.
Welche Folgen diese harte Trennung und die Sorge um die Mutter haben, vermögen Iris Richter und ihr Partner Dirk noch nicht zu sagen.
Iris Richter erkannte, dass sie ihr Leben, das sie bisher geführt hat, so nicht weiter führen kann und auch nicht weiter führen will. In der Reha in der VAMED Klinik Schloss Pulsnitz von August bis September 2015 gewann sie sowohl körperlich als auch mental an Kraft.
Sie erkannte für sich, dass das Leben auf der Überholspur nicht das ist, was sie am Ende des Tages zu einem zufriedenen und glücklichen Menschen macht. Sie erkannte, dass die Zeit mit ihren Kindern und ihrem Dirk oft viel zu kurz gekommen ist. Sie erkannte, dass Familie und Freunde es wert sind, mit ganzer Aufmerksamkeit beschenkt zu werden.
Sie verließ Pulsnitz nach ihrer ersten Reha körperlich stark, aber kognitiv noch wenig belastbar. Die Folgen der Erkrankung sind noch immer zu spüren. Sie ist nach einem Tag als „Familien-Manager“ sehr erschöpft und ist dankbar über die unermüdliche Hilfe ihres Partners. Sie kann seit der Tumoroperation schlecht schlafen und ist bei kognitiv anspruchsvollen Aufgaben deutlich schneller erschöpft als früher.
Aktuell absolviert sie ihre zweite Anschlussheilbehandlung in der VAMED Klinik. Sie führt viele Gespräche mit den Neuropsychologen über ihre Krankheit und den psychischen Umgang damit. Sie lernt ihre Leistungsfähigkeit neu zu bewerten und ihr Leben aktiv zu gestalten. Sie genießt heute die Zeit mit ihren Kindern und ihrem Partner wesentlich bewusster und intensiver. „Ich bin froh, jetzt wirklich aufmerksam an den Themen der Kinder teilzunehmen und nicht alles im Vorbeiflug zu erledigen. Ich liebe es, mit meiner Großen über ihre Alltagsbelange, die Schule, die Tanzstunde und ihre Freunde zu sprechen, beim Fußballturnier der Jungs dabei zu sein oder mit Mathilda morgens zum Kindergarten zu spazieren.“ Fragt man Iris Richter nach dem Sinn des Lebens, wird sie antworten: meine Familie, meine Freunde, mein neues Ich.